Schulabmeldungen – ein Versuch der Annäherung aus menschen- und kinderrechtlicher Sicht

19.10.2021

Mit Ende der Sommerferien wurde wieder besonders deutlich, was steigende Verunsicherung und Frustration nach mehr als eineinhalb Jahren Pandemie im schulischen Kontext mit sich bringen: sinkendes Vertrauen in (Bildungs-) Institutionen. Ob aus Sorge vor Erkrankung, Abmeldungen als Zeichen des (vermeintlichen) Widerstands gegenüber eines reformbedürftigen Bildungswesens oder geballtes New Age-Halbwissen, das übersetzt wird als Rechtfertigung für die Verweigerung des Schulbesuchs der eigenen Kinder und dabei zentrale entwicklungspsychologische Überlegungen weitgehend außer Acht lässt – die Gründe für eine Verdreifachung (in Salzburg wurde zwischenzeitlich von einer Vervierfachung berichtet) von Schulabmeldungen in diesem Schuljahr sind wohl vielfältig und bedürfen der weiterer Beobachtung.

Eines steht jedoch fest: Das Miteinander im Klassen- und Schulraum, das Aushalten und Finden von Kommunikationswegen bei Differenzen, das Erlernen sachlicher Diskussion zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen unter Gleichaltrigen, gemeinsames Spielen (Art. 31 KRK; und dabei Lernen!) in der Pause uvm. spricht – bei aller Zustimmung hinsichtlich der Notwendigkeit von Reformen und Verständnis für Frustrationen, gerade in Anbetracht der noch immer chaotischen Pandemieregelungen im Bildungskontext – für die Teilnahme am Unterricht, sofern physisch und psychisch irgend möglich.

Dieser Lern- und Sozialraum ist für das Herausbilden persönlicher und gesellschaftspolitischer Handlungskompetenzen nicht zu ersetzen, egal wie gut der heimische Methoden- und Materialkoffer ausgestattet sein mag. Ganz zu schweigen von der Frage, was eine zunehmende Fleckenbildung im primären Bildungsbereich in Sachen Chancengleichheit (Art. 28 KRK) und, wie es neuerdings heißt, der Ausbildung persönlicher „Bubbles“ nach sich zieht. Zusammenhänge mit zugrundeliegenden Einstellungen, resultierend aus vereinfachten Auslegungen einer grundsätzlich wichtigen und logischen Entwicklung hin zu mehr vernetzter Ganzheit im weitesten Sinn, liegen auf der Hand. Ohne zu sehr in darin liegende Psychodynamiken einzutauchen, obliegt es jedoch dem sich entwickelnden Kind, sich unterschiedlichen Sichtweisen anzunähern und für sich als (vielleicht auch nur vorübergehend) wahr zu befinden. Eine Auseinandersetzung mit der Welt braucht dabei die gegenseitige Einflussnahme Gleichaltriger auf Augenhöhe; denn ganz gleich wie autoritativ und zugewandt die Erziehung, in der Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen (allgemeiner zwischen „Jüngeren“ und „Älteren“) ist, sind Hierarchien der zugrundeliegenden Beziehungsdynamik immanent – und notwendig wie hilfreich für andere Entwicklungsschritte!

Doch „um ein Kind zu erziehen [sich seiner Selbst und seiner Stärken, Schwächen und Möglichkeiten, Grenzen bewusst werden zu lassen], braucht es ein ganzes Dorf“ (afrikanisches Sprichwort) und die inneren Repräsentationen, die in vielfältigen Begegnungen entstehen, sind umso stärker und lebendiger, je alltäglicher und greifbarer sie werden. In diesem Kontext dürfen neben Entwicklungs- auch Schutzaspekte des schulischen Alltags nicht außer Acht gelassen werden. So bildet das vielfältige Angebot vertrauensvoller Beziehungen zu Pädagog:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und nicht zuletzt Peers in Kindergärten und Schulen den Grundstein für einen niederschwelligen und effektiven Schutz vor Gewalt (Art. 19 KRK). Freilich ist nicht allen Eltern, die ihre Kinder in den vergangenen Wochen vom Unterricht abgemeldet haben, zu unterstellen, dass ein grundsätzliches Gewaltpotenzial ersichtlich wäre. Betrachtet man jedoch einerseits die Komplexität des Gewaltbegriffs, andererseits die Dimensionen der aktuellen Entwicklungen stellen sich diese Fragen jedoch zwangsläufig auf systemischer Ebene, zumal Kinder und Jugendliche nicht nur in der Kernfamilie von Gewalt betroffen sein können und oftmals Schutzmotive, nebst und verwoben mit Schuld- und Schamgefühlen, gegenüber den eigenen Eltern und Geschwistern zum Tragen kommen können, was ein Kind ohne Bezugspunkte zu externen Vertrauenspersonen unter Umständen verzweifelt und einsam zurück lassen kann. Neben dem Stoppen der Gewalthandlungen an sich geht es dabei auch um psychische Wunden, die Gewalthandlungen verursachen (und weitertragen) können und die einer professionellen Begleitung, auch im Sinne einer tragfähigen sozialen Vernetzung, bedürfen.

Bundespolitisch wurde auf die jüngsten Entwicklungen der steigenden Schulabmeldungen bereits mittels Erlass reagiert. So fordert das Bildungsministerium beispielsweise u.a. ein „freiwilliges Reflexionsgespräch“ nach Ablauf des ersten Semesters. Im Sinne der der Objektivierung und Nachverfolgung des reinen Wissens-Zuwachs, mag diese Maßnahme Bildungsrückständen vielleicht entgegen wirken. Alles weitere, wie eine vielfältige Identitätsbildung, das Erlernen sozialer Kompetenzen und Interventionsmöglichkeiten bei Gefährdungslagen bleibt davon jedoch unberührt. Und hier ist aus kinder- und menschenrechtlicher Sicht sicherlich die Frage zu stellen um was es geht: Hört Bildung beim Wissenserwerb auf oder ist dieser, gerade im digitalen Zeitalter und der stets verfügbaren Informationsdatenbanken, zweitrangig und das worum es eigentlich geht – Lebensarten und –welten kennenzulernen, Bindungen einzugehen, sich selbst in der Annäherung und Abgrenzung zu v.a. Gleichaltrigen kennenzulernen, Vielfalt schätzen zu lernen (oder nicht zu verlernen sie zu schätzen), gemeinsames Lernen lernen können – bleibt im Heimunterricht zunächst vernachlässigt und ist auch durch beispielsweise kompensierende Vereinsmitgliedschaften oder gar eigens gegründeten „Lerngruppen“ nur bedingt zu ersetzen.

„Beginne mit dem Notwendigen, dann mit dem Möglichen und plötzlich wirst du das Unmögliche tun.“
Franz von Assisi

Zusammengefasst kann aus menschenrechtlicher Sicht festgehalten werden, dass es sinnvoll erscheint, aus der berechtigten Systemkritik an einer Änderung desselbigen zu arbeiten und an einer Veränderung struktureller Rahmenbedingungen mitzuwirken. Dass diese Veränderung langsam geschieht, liegt in der Natur der Sache und ist oftmals ärgerlich. Dieser Ärger ist jedoch eine treibende Kraft im Reformprozess, welcher an sich Herausforderungen und Lernbegebenheiten mitbringt, der die Beteiligung aller Akteur:innen – und nicht zuletzt der Kinder – braucht. Frei nach Brecht sollte man Schweres leicht angehen, um es zu bewältigen. Und dazu braucht es eine Portion Vertrauen in die Einbindung starker sozialer Netze und ein Möglich-machen durch Teamwork!

Wir empfehlen daher, für den Moment Abstand zu gesellschaftlichen, politischen und medialen Wahnsinnigkeiten zu wahren und lieber wieder einen Schritt aufeinander zuzugehen – Schulleiter:innen, Lehrer:innen, wie auch Eltern gleichermaßen. Denn die Kinder von heute, sind die Kinder von heute. Sie wissen noch nichts von metakognitiven Überlegungen, die möglicherweise, bewusst oder unbewusst, hinter der wachsenden Distanz zu Institutionen und letztlich auch deren Ressourcen stehen. Doch um sich ein eigenes Bild von der Welt und ihren Fugen machen zu können, das sie zukünftig (in einer Welt, in der wir als Erwachsene schrittweise nicht mehr Teil sein werden) für sich mitgestalten können, brauchen sie Gelegenheit diese Ressourcen zu erfahren.

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